Mittwoch, 6. Mai 2009

Hanna Schmitz (Reportage)

Analphabetismus
Michael war früh aufgewacht, neben ihm schlummerte Hanna noch tief und fest. So dachte er, dass er ihr doch eine nette Überraschung machen könne, in Form eines Frühstücks. Er hinterließ ihr einen Zettel „Guten Morgen! Hole Frühstück, bin gleich wieder zurück“ und machte sich auf den Weg. Als er strahlend mit Frühstück und Rose wiederkam, war Hanna bereits aufgestanden, zitternd vor Wut. „Was ist denn los?“, er wollte sie umarmen. „Fass mich nicht an!“, sie zog Michael ihren Gürtel quer durchs Gesicht. Er blutete. Hanna ließ den Gürtel fallen und fing an zu weinen. Nun ließ sie sich endlich trösten. Nach Frühstück und Versöhnungssex lagen beide zufrieden beieinander, doch Michael wusste immer noch nicht was zuvor mit Hanna los gewesen war.
Wer war diese Hanna Schmitz? Wieso agierte sie derart unpassend? Und warum ließ sie ihren Geliebten in Unwissenheit? Wer „Der Vorleser“ von Michael Schlink gelesen hat, weiß wie es um den „Mythos“ Hanna Schmitz steht. Lange nachdem Hanna den Kontakt zu Michael abgebrochen hatte, wurde diesem klar: Sie war Analphabetin. Dies erklärt vieles an ihrem Verhalten. Denn Hanna richtete ihr ganzes Leben darauf aus, dass ihr Makel ein Geheimnis bleibt. Was der Grund dafür sein könnte, darüber lässt uns Schlink im Unklaren. Die Vermutung liegt jedoch nahe, dass sie nicht von der Gesellschaft ausgeschlossen werden wollte. Doch erreichte sie mit ihren Handlungen nicht genau das? Sie entzog sich etwa einer Beförderung bei Siemens und wurde stattdessen KZ-Aufseherin. Sie nahm vielleicht wissentlich in Kauf deswegen später gerichtlich verurteilt zu werden. Das erklärt natürlich auch ihr Verhalten gegenüber Michael in der obigen Szene. Sie hatte ganz einfach riesige Angst, Michael hätte sie verlassen.
Scham
„Wer hat nun den Bericht geschrieben?“, fragte der Richter. „Die da!“, eine andere Angeklagte zeigte auf Hanna. Diese Frauen waren alle KZ-Aufseherinnen und waren angeklagt, weil sie ein brennendes Haus mit gefangenen Frauen und Mädchen nicht aufsperrten, und dabei viele verbrennen ließen.
„Nun, Frau Schmitz, haben Sie diesen Bericht geschrieben?“ Sie antwortete nicht. Der Staatsanwalt schlug eine Schriftanalyse vor: „Wir könnten ihre Schrift mit der des Berichtes vergleichen.“ „Nein, Sie wollen meine Schrift? Meine Schrift…“, Hanna zögerte. Sie setzte ein paar Mal an, etwas zu sagen, doch schlussendlich meinte sie: „Ach, ich gebe zu, dass ich den Bericht geschrieben habe.“
Dabei war sie unschuldig. Hanna schämte sich so sehr, dass sie weder schreiben noch lesen konnte, dass sie statt einem „Outing“ sogar das Gefängnis vorzog. Hanna bekam lebenslänglich, die anderen Angeklagten bekamen lediglich zeitlich begrenzte Freiheitsstrafen. Auch diese Szene zeigt das deutlich: Hanna flüchtete wegen einer neuerlichen Beförderung von heute auf morgen in eine andere Stadt und brach den Kontakt zu Michael komplett ab. Sie hatte größtes Grauen davor, dass ihre Schwäche publik geworden wäre. Hannas ganzes Leben war geprägt von dieser Angst, die sie sehr oft gefühllos und kühl wirken ließ.
Mutterliebe
Als sich Hanna und Michael zum zweiten Mal sahen, bat Hanna ihn Koks aus dem Keller zu holen. Er kam von oben bis unten rußschwarz zurück. „Wie siehst du denn aus, Jungchen?“, lachte sie. „So kann ich dich nicht nach Hause gehen lassen, ich lass dir ein Bad ein.“ Nachdem er sich fertig gewaschen hatte stand sie schon mit dem Handtuch da und rubbelte ihn trocken. Dann merkte er, dass auch sie nackt war. Mit langsamen Küssen verführte sie ihn. Nachdem sie sich geliebt hatten, las er ihr aus seinen Büchern vor.
Das wurde quasi zum Ritual der beiden: Baden, Sex, Vorlesen. Doch dieses erste Mal: Hatte es Hanna von Anfang an auf Michael abgesehen, war der Sex schon geplant gewesen? Oder ließ sie ihm aus reiner Hilfsbereitschaft ein Bad ein, und es ergab sich alles spontan? Hanna hatte schon immer einen Hang zur Mutterliebe. Damals im Konzentrationslager hatte sie immer die kleinsten und schwächsten Mädchen, die sonst schwerstens arbeiten hätten müssen, zu sich genommen und sich vorlesen lassen. Das war nicht etwa eine Selektion ihrer Lieblinge. Nein, sie wollte ihnen die letzten Monate erträglich machen.
Buße
Nachdem Michael Hanna oft Kassetten, auf denen er ihr Bücher vorliest, geschickt hatte, fing sie aus eigener Willenskraft an lesen und schreiben zu lernen. Nun sollte Hanna begnadet und aus dem Gefängnis entlassen werden. Michael kam sie zuvor noch besuchen. „Diese Frau auf der Bank ist Hanna?“, dachte er „graue Haare, tiefe Furchen, ein schwerer Leib?“ Er kam näher. „Hallo, Jungchen! Schön, dass du mich besuchen kommst!“ Er setzte sich neben sie, und roch eine alte Frau, wie Großmütter. „Ich habe mich so gefreut, dass du lesen gelernt hast!“, bewunderte er sie. Doch spürte er, dass er diese Bewunderung viel zu wenig ausdrücken konnte verglichen mit ihrer riesigen Mühe und Überwindung tatsächlich lesen und schreiben zu lernen. „Weißt du, ich hatte immer das Gefühl, das mich keiner versteht, somit konnte auch niemand Rechenschaft von mir fordern, nicht einmal das Gericht konnte das. Aber die Toten können das. Sie verstehen mich auch wenn sie nicht dabei waren. Früher, vor dem Prozess konnte und wollte ich sie noch verscheuchen aber hier im Gefängnis kommen sie jede Nacht.“
Hanna hatte sich im Gefängnis sehr verändert. Sie wollte für die Taten, die sie ein Leben lang wegen ihrer Scham vollführt hatte, büßen. Sie wollte nicht bewundert werden. Sie bestrafte sich, indem sie lesen lernte, was eine sehr große Überwindung erforderte. In ihrer Gefängnis-Isolation vernachlässigte sie ihren Körper. Sie wurde immer unhygienischer, anders als Michael es früher an ihr gekannt hatte. Schlussendlich beendete Hanna kurz vor ihrer Entlassung ihr Leben durch einen Selbstmord. Hanna hatte verfügt, dass die einzige und letzte Überlebende des brennenden Hauses im KZ ihr gesamtes Erspartes bekommt. Diese Frau wollte das Geld aber nicht annehmen. So beschloss sie zusammen mit Michael, es in Hannas Namen der „Jewish League Against Illiteracy“ zu spenden.

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